253. Wie das Stierkälbchen und das Ziegenböckchen die Wölfe erschreckten

Heute zeigen zwei Jungtiere, das es auch ohne erwachsene Beschützer geht – wenn man nur dreist genug ist.

Wie das Stierkälbchen und das Ziegenböckchen die Wölfe erschreckten

In viel früheren Zeiten zog ein Ail* von seiner Winterweide fort, weil ein Dsud** ausbrach. Aber unter dem Schnee blieben ein einjähriges Stierkälbchen und ein Ziegenböckchen ausweglos und völlig erschöpft zurück, so erzählt man. Mit dem Frühling kam bald die Schneeschmelze, frisches Grün spross, und sobald es warm genug war, kamen eben jene beiden Jungtiere unter dem Restschnee hervor. Als sie, nachdem sie ein bisschen zu Kräften gekommen waren, gemeinsam losliefen, fanden sie auf dem Weg eine Wolfshaut.

Sie nahmen sie mit sich und liefen weiter, bis in der Steppe eine weiße Jurte sichtbar wurde. Das Stierkälbchen und das Ziegenböckchen steuerten darauf zu. Als sie bei der weißen Jurte angekommen waren, legten sie die Wolfshaut draußen zurück und traten ein. Drinnen aber schmausten sieben, große Wölfe bei einem Trinkgelage. Weiterlesen

252. Der Spatz mit dem Kropf – oder ein Kettenmärchen zum Thema „Selbst ist noch das kleinste Vögelchen!“

Heute gibt es ein Tiermärchen, das zugleich ein Kettenmärchen ist und auch noch eine Moral hat. Drei Dinge auf einmal, das geht nun wirklich nicht? Lest selbst!

Der Spatz mit dem Kropf

In früheren Zeiten lebte ein kleiner Spatz, der seinen stets mit Körnern gefüllten Kropf sehr lieb hatte,so erzählt man. Als er sich eines Tages, nachdem er geschäftig auf der Suche nach Körnern umhergeflogen war und sein Kropf besonders gut gefüllt war, auf einen Erbsenstrauch setzte, wollte der doch seinen Kropf aufschlitze!

Empört flog der Spatz daraufhin zur Ziege, um sie den Erbsenstrauch aufessen zu lassen. „Frau Ziege, Frau Ziege, der Erbsenstrauch hat meinen geliebten Kropf aufschlitzen wollen! Bitte gehen sie zum Erbsenstrauch und essen Sie ihn auf,“ sagte er. Die Ziege sagte: „Das sagst Du so, dass ich Deinen Strauch essen soll. Vorher muss ich aber noch das Gras hier zu Ende essen.“

Empört flog der Spatz daraufhin zum Wolf, um ihn die Ziege fressen zu lassen. Weiterlesen

251. Der kluge Bär

In mongolischen Tiermärchen brauchen nicht nur neugierige Jungpferde manchmal einen Retter. Auch andere Nutztiere geraten in jungen Jahren gerne in Not und statt dem kleinen Hasen, der nur durch Mutterwitz helfen kann, greift im folgenden Tiermärchen der kluge und starke Bär einem Kälbchen unter die Arme. Gegen wen es Hilfe braucht? Lest selbst…

Der kluge Bär

Es war einmal ein Kalb, das den Anschluss an seine Herde verloren hatte. Zu allem Überfluss war es auch noch von einer Biene gestochen worden, und so rannte es in der sommerlichen Hitze mit hochaufgerichtetem Schwanz aufgeregt durch die Steppe, bis es sich schließlich in einem weit, weit entfernten Wald verirrte. Dort traf es einen alten, erfahrenen Wolf.

„Da stehe ich auf und da kommt ein verwaistes, weißes Kälbchen angerannt. Ja, Dich werde ich verschlingen,“ sagte der Wolf. Das Kalb bekam Angst und fing an zu zittern. „Sind Sie etwa ein sogenannter Wolf? Ich bin so ein schönes Tier, und Sie wollen mich fressen. Das glaube ich nicht,“ sagte es. „Du mußt mir nicht schmeicheln. Das hat Dir wohl eine Mutter gezeigt. Ich kann auf das Lob verzichten. Seit ewigen Zeiten verfluchen mich Menschen und Tiere,“ sagte der Wolf und ihm lief schon das Wasser im Mund zusammen. Er riss sein Maul weit auf, als von einer Waldlichtung plötzlich ein starker Braunbär auf die beiden zukam. Weiterlesen

Die zwei guten Pferden – oder: 250. Märchen im Märchensammler!

Wie angekündigt, gibt es zum Neustart des Märchensammlers einen Monat voller mongolischer Tiermärchen. Ihr wisst schon – die schönsten, klügsten, lustigsten und also einfach tollsten Märchen der Welt. Meiner bescheidenen Meinung nach.

Heute gibt es nicht nur direkt ein Paradebeispiel, sondern zugleich das – Achtung: Trommelwirbel – 250. Märchen im Märchensammler!!

Aber lest selbst…

Die zwei guten Pferde

Vor langer, langer Zeit sehnten sich zwei Pferde, die an einen weit entfernten Ort verkauft worden waren, nach ihrer Heimat und beschlossen, zurück nach Hause zu laufen. Das eine von den beiden Pferde war jedoch alt geworden und konnte irgendwann nicht mehr weiter. Dem jungen Pferd gab es folgende Ratschläge mit auf seinen Weg:

„Nun, mein junges Geschwisterchen, laufe schön auf dem Weg entlang zurück. Dein betagter älterer Bruder wird jetzt sterben. Brüderchen, weiche nicht vom festen Weg ab. Gehe nicht auf ein braunes, sich schemenhaft bewegendes Etwas zu. Mache nicht die Öffnung eines verschnürten Etwas auf.“ So belehrte es seinen jungen Gefährten.

Das junge Pferd lief zögerlich alleine weiter. Zunächst blieb es brav auf dem Weg. Doch bald sah es am Horizont die Umrisse eines sich schemenhaft bewegenden, braunen Etwas, so erzählt man. Zwar hatte es die Ratschläge des älteren Gefährten nicht vergessen, aber es konnte seiner Neugier nicht widerstehen. Es wollte dieses Etwas untersuchen. Als es das braune Ding erreichte, war es ein Sack, dessen Öffnung fest verschnürt war. In dem Sack aber schien ein Lebewesen zu stecken. Er bewegte sich. Wieder konnte das Pferd seiner Neugier nicht widerstehen. Es musste sehen, was aus dem Sack zum Vorschein kommen würde. Weiterlesen

Der Märchensammler sammelt wieder!

Märchen sind einfach zu schön, um sie nicht zu sammeln und zu teilen, und also habe ich mich endlich dazu durchgerungen, den Märchensammler wiederzubeleben. Geschlagene fünf Jahre ist der letzte Beitrag alt. Viel ist passiert. Ganz so alt wie die Erzählerin auf dem Gemälde bin ich zwar immer noch nicht – okay, nicht annähernd – aber ich hoffe doch, wieder mit genauso viel Leidenschaft dabei zu sein. Und ich hoffe, Euch wenigstens ein bisschen so sehr fesseln zu können wie sie ihre Zuhörer – ob Ihr nun kleine (nacktpopo-ige) Kinder seid oder nicht. Märchen sind ja für alle da!

Der Märchensammler sammelt und teilt also wieder, allerdings in einem anderen Rhythmus. Der ursprüngliche Plan war es ja, ein Märchen pro Tag zu posten. Die Idee finde ich weiterhin großartig, aber die Umsetzung absolut unrealistisch. Es hat mich jeweils einen kompletten Tag gekostet, die Posts der Folgewoche vorzubereiten. Keine Ahnung, wie ich das hingekriegt habe…bis ich es eben auch nicht mehr hingekriegt habe. Für den Neustart nehme ich mir vor, ein Märchen pro Woche zu posten und zwar jeweils zu einem Monatsthema.

Um wieder in Schwung zu kommen und weil sie einfach meine große Märchenliebe sind, wird der März im Zeichen der mongolischen Tiermärchen stehen. Der tollsten, witzigsten, klügsten und einfach schönsten Märchen, die es gibt. Jawoll.

Bildquelle: „Spannende Geschichte“, Ölgemälde aus dem Nachlass von Clemens von Franckenstein

Kurzes Lebenszeichen

Hallo ihr Lieben,

und ein ganz großes mea culpa meinerseits, dass ich so sang- und klanglos in der märchenlosen Versenkung verschwunden bin.

Am Freitag um 14h darf/muss ich meine Doktorarbeitung verteidigen und gleich noch zu zwei weiteren Themen Rede und Antwort stehen. Und also bin ich seit Wochen auf Lern- und Panikhochtouren.

Und am Montag drauf habe ich gleich noch ein Vorstellungsgespräch, wo ich jedenfalls bislang weder Panik- noch Vorbereitungshochtouren schiebe, aber ja. Nicht lockerlassen ist das Motto, im Moment.

Ich hoffe aber stark, euch spätestens übernächste Woche wieder ein frisches Märchen zu präsentieren. 🙂

Viele liebe Grüße
eure Berlinickerin

43.7 Die Geschichte des Ardschi-Bordschi Chan – heute: IV. Vikramâditja’s Gemahlin Tsetsen Büdschiktschi – Der weise Papagei – Der falsche Eid

Am heutigen letzten Tag der Abenteuer Ardschi-Bordschi Chans muss sich nicht nur der, sondern nun auch noch eine seiner Frauen beweisen vor dem Thron. Dabei erhärtet sich aber der Verdacht, dass die Holzfiguren sich vor allem gerne selber reden hören. Lest selbst…

Die Geschichte des Ardschi-Bordschi Chan
Vikramâditja’s Gemahlin Tsetsen Büdschiktschi – Der weise Papagei – Der falsche Eid

Der König Ardschi-Bordschi hatte 71 Gemahlinnen. Eine der vornehmsten unter ihnen forderte er auf, sich vor dem Throne zu verneigen und die Weihe zu empfangen. Als sie dem Throne nahe gekommen war, da rief eine Holzfigur: „O halt! Berühre mit deinem Haupte den Thron nicht. Tsetsen Büdschiktschi, vormaleinst die Gemahlin des hochheiligen Königs Vikramâditja, pflegte nie abseits von ihrem Manne unrechten Gedanken nachzuhängen; wenn du eine solche Fürstin sein solltest, dann nahe dich und empfang die Weihe; wenn aber nicht, so lass es sein!“ Außerdem aber erzählte sie noch dazu die Geschichte von den 71 Papageien. –

Früh vor Zeiten war einmal die Gemahlin eines Königs krank geworden und die Ärzte waren nicht im Stande sie zu heilen. Weil aber in Folge des Genusses eines Vogelhirnes nach und nach ihre Krankheit sich zum Bessern gewendet hatte, gedachte der Großkönig von seinen Untertanen Vogelgehirn als Abgabe zu erheben. Deshalb berief er einen Vogelsteller zu sich, und als dieser erschien, sprach er zu ihm: „Wenn du mir aus der hiesigen Umgebung 71 Vogelgehirne lieferst, so werde ich dich belohnen; vermagst du sie nicht aufzutreiben, so bestrafe ich dich.“ Während der Mann nun in der äußersten Verlegenheit war, fiel ihm ein, dass auf einem Baume immer 71 Papageien zu übernachten pflegten. „Auf demselben werde ich Netze spannen,“ dachte er, und so spannte er denn auch in der Tat auf dem Baume die Netze auf.

Allein unter diesen Papageien befand sich ein besonders kluger; dieser kluge Papagei sprach zu seinen Gefährten also: „Auf diesem Baume hat sich unser Feind niedergelassen; wir wollen auf einem Felsen übernachten.“ Nachdem sie dort vier bis fünf Nächte zugebracht hatten, nahm der Mann seine Netze und stellte sie auf dem Felsen auf. Da sprach der kluge Papagei abermals zu seinen Gefährten: „Auf diesem Felsen hat sich wiederum ein Feind niedergelassen; wir wollen uns nach einem andern Platz wenden.“ Darüber gerieten die Gefährten in Zorn und versetzten: „Wir sind von unserm ursprünglichen Baum, indem du sagtest, dass daselbst ein Feind sich eingeschlichen habe, auf diesen Felsen gezogen; jetzt sagst du abermals, auf dem Felsen sei ein Feind erschienen; wohin willst du denn gehen? Wenn man die Sache genauer betrachtet, so dürfte im Gegenteil der Feind es auf dich allein abgesehen haben.“ Der kluge Papagei versetzte: „Wenn der Feind es auf mich absehen würde, so handelte es sich nur um ein einziges Wesen; allein es hat sich der Feind 71 Köpfen genähert und so dürfte das Verderben über alle kommen. Wie könnte ich aber trotz meines bestimmten Wissens ganz allein mich davonmachen? Auf diese Weise dürfte denn, scheinbar als hätten wir nichts gewusst, das Verderben über uns alle kommen.“

Als sie nun ungeachtet dieser Warnung auf dem Felsen weiter übernachteten, blieben sie alle in den Netzen hangen, und während sie so dalagen, sprachen die andern klagend: „Für uns Unverständige musst du, der Verständige, nun mit büßen!“ Dann aber fragten sie den klugen Papagei: „Da der Besitzer dieser Schlingen mit einem Stocke in der Hand daherkommt, sollte dir nicht noch ein Rettungsmittel einfallen?“ Der kluge Papagei sprach: „Was für ein anderes Mittel gäbe es für uns, als zu entfliehen! Indes wollen wir alle, scheinbar als wären wir tot, uns auf den Rücken, kopfüber und auf die Seite legen. Denn er wird denken, ‚die lebenden muss ich töten‘, und so könnte er uns alle totschlagen; wozu sollte er aber die Toten noch einmal totschlagen? Er wird uns ja doch wohl nur um unseres Fleisches willen töten wollen. Nachdem wir einmal in die Hände des Mannes gefallen sind, dürfte es von Vorteil sein, ruhig liegen zu bleiben. Betrachtet man diesen unsern Fels genauer, so ist der Zugang sehr eng; wenn er auch durch eine Felsspalte hindurchkriecht und herankommt, so hat er hier keinen Platz; und wenn er uns mit sich fortschleppen will, so wird er, weil er uns nicht erträgt, uns abzählen und wahrscheinlich sogar hinabwerfen; diejenigen von uns, die zuerst hinabgefallen, bleiben wie tot liegen; sobald er aber bei seinem Abzählen 71 gesagt, dann wollen wir alle der Reihe nach uns erheben und davonfliegen.“

Auf diesen Rat legten sie sich ruhig hin. Als der Mann kam und sie sah, sprach er: „O ihr schlimmen, listigen Papageien, das dürfte euer Tod sein! Ichr habt mir durch euer schlaues Hin- und Herwandern ordentlich Kummer verursacht; ich will euch weich klopfen!“ Als er hinzutrat und sie auf dem Rücken und kopfüber liegend tot sah, rief er: „Sie sind ja tot! Ich will sie sämtlich, weil der Platz so eng ist, im Abzählen hinabwerfen und dann aufheben.“ Und so warf er sie, indem er sie zählte, hinab; ganz zuletzt war noch der kluge Papagei allein übrig. Während er ihn losknüpfte und, schon 71 ausrufend, eben hinabwerfen wollte, fiel der Wetzstein, den er im Gürtel bei sich trug, mit Geräusch hinunter; die andern, in der Meinung, die Zahl 71 sei voll, flogen insgesamt auf und davon und der kluge Papagei blieb allein in den Händen des Mannes zurück. Weiterlesen

43.6 Die Geschichte des Ardschi-Bordschi Chan – heute: III.b Zwei Binnenerzählungen

Nahtlos knüpfen wir heute also mit den beiden Erzählungen an, zu denen Vikramâditja gestern angehoben hatte, um die schweigende ‚Göttersonne‘-Chatun zum Reden zu verführen. Aber lest selbst…

Die Geschichte des Ardschi-Bordschi Chan
Zwei Binnenerzählungen

Die hölzerne Frau

In längst vergangenen Zeiten pflegten vier Knaben aus vier Dörfern ihre Herden zu hüten, wobei sie einen bestimmten Platz verabredet hatten. Derjenige von ihnen, der zuerst gekommen war, wartete lange vergebens auf seine Gefährten. Bei seinem Weggehen machte er aus einem Stück Holz die Figur einer Frau, stellte sie auf und ging dann selbst fort. Als der zweite von ihnen schließlich doch kam, trug er ihr gelbe Farbe auf, bevor er ebenfalls wegging. Als der dritte kam, blieb er lächelnd stehen, gab der Frau noch die charakteristischen Zeichen, und entfernte sich gleichfalls. Endlich erschien der vierte, und nachdem er ihr Leben eingehaucht, ward sie eine schöne reizende Frau zum Heiraten. Indem nun alle vier sich um die Frau stritten, sagte der Erste: „Ich habe sie zu allererst aus Holz geformt.“ Der Zweite sagte: „Ich habe die Farbe aufgetragen.“ Der Dritte sprach: „Ich habe die charakteristischen Zeichen hinzugefügt.“ Der Vierte sagte: „Ich habe sie beseelt.“ –

Da sie nun alle vier so miteinander stritten, fuhr Vikramâditja als König fort, welchem von ihnen wird man sie geben müssen? Da versetzten Altar und Rosenkranz: „Naran-Chatun antwortet in der Regel nicht. Von unpersönlichen Gegenständen, wie wir zwei, Altar und Rosenkranz, sind, pflegt sonst auch keine Rede zu erfolgen; allein da der großmächtige König erschienen ist und bei Erzählung einer Geschichte um die Meinung fragt, wie könnte man da die Antwort schuldig bleiben? Weil mir jedoch davon, dass Naran-Chatun Tag und Nacht Gebete hersagt, der Kopf ganz schwindelig geworden ist, so bin ich, da mein Inneres beständig unaufgeklärt bleibt, nicht im Stande, das richtige zu unterscheiden; indes sollte doch wohl, scheint mir, derjenige, welcher zu allererst die Figur gemacht hat, sie zu erhalten berechtigt sein.“ Bei diesen Worten warf Naran-Chatun einen Blick auf ihren Altar und Rosenkranz und sprach also: „Ein persönliches Wesen wie ich fühlte nicht den Mut zu antworten, geschweige denn zwei unpersönliche Gegenstände, wie ihr seid; wenn ihr daher mit eurer so eben gegebenen Antwort das richtige nicht treffet, ist das ein Wunder? Derjenige,“ fuhr sie fort, „der die Figur zuerst gemacht hat, ist der Vater: der die Farbe aufgetragen, ist die Mutter; der die charakteristischen Zeichen hinzugefügt hat, ist der Lama; der ihr das Leben einhauchte, wie sollte der nicht ihr Mann sein?“ Also hatte sie zur Antwort gegeben.

Darauf sprach der König: „Von einem persönlichen Wesen, der Naran-Chatun, ist eine Antwort erfolgt; von zwei unpersönlichen Gegenständen, dem Altar und Rosenkranz, ist eine Antwort erfolgt. Erzählet nun auch ihr eine Geschichte.“ Während Naran-Chatun, ohne irgendeinen Laut von sich zu geben, ruhig dasaß, sprach der Opferkrug: „Weil mein Inneres bestimmt ist, mit Weihwasser angefüllt zu werden, und ich stets in Rauch gehüllt bin, so bin ich nicht im Stande zu erzählen; erzähle daher du, o König, eine Geschichte.“ Naran-Chatun warf bei diesen Worten ihrem Opferkrug einen Blick zu und blieb ruhig sitzen. Da erzählte der König folgende Geschichte:

Bestrafte Untreue

Einstmals zogen zwei Verheiratete, Mann und Frau, mit einander am Fuße einer Felswand vorüber. Von der Felswand herab ließ sich eine wohlklingende, liebliche Stimme vernehmen; selbst die berittenen Rosse blieben stehen und hörten zu, geschweige denn die Menschen. Die Frau sich danach hinwendend dachte bei sich: „Einem Manne, der mit einer so lieblichen Stimme begabt ist, möchte ich angehören!“ Während sie mit diesem Gedanken weiterging, kamen sie zu einem reichlich mit Wasser versehenen Brunnen. Da sprach die Frau zu ihrem Manne: „Hole mir doch von diesem Wasser, ich habe Durst.“ Der Mann machte Halt; indem er aber zum Wasser nicht hinabreichte und das Gleichgewicht zu behalten suchend sich über den Brunnen lehnte, fasste die Frau, die ebenfalls abgestiegen war, ihn an den beiden Füssen, stieß ihn in das Wasser und tötete so ihren Mann.

Als sie nun jene liebliche Stimme aufsuchte und sich danach umschaute, stellte es sich heraus, dass es die stöhnende Stimme eines am Rücken und Hals mit Wunden und Beulen bedeckten Mannes war, die, an der Felswand wiederhallend, sich so lieblich vernehmen ließ. Die Frau war über diese Entdeckung sehr betroffen. „Weil ich,“ sprach sie, „als ich die Stimme eines solchen Leidenden vernahm, meinen edlen Mann getötet habe, so ist nun meine Begegnung mit diesem unglücklichen Manne die Wiedervergeltung dafür.“ Mit diesen Worten nahm sie den kranken Mann auf ihre Schultern, und indem sie sich mühsam mit ihm dahin schleppte, schrumpfte sie allmählich zusammen und magerte ab, bis sie zuletzt starb. –

„Ist das ein gutes oder ein schlechtes Weib?“ fragte Vikramâditja wieder als König. Doch Naran-Chatun gab keinen Laut von sich. Die Lampe aber sprach: „Naran-Chatun hier lässt die Lampe Tag und Nacht ohne Unterlass brennen; weil ich dadurch ganz erschöpft und zusammengeschrumpft bin, so bleibe ich stets ohne die nötige Sammlung, um in richtiger Unterscheidung zu sprechen. Indes, wenn ich berücksichtige, dass die Frau, nachdem sie ihren biederen Mann getötet und dafür einen kranken Mann gefunden hat, diesen doch nicht unter dem Vorwande, er sei schlecht, im Stiche ließ, so verdient sie als gutes Weib zu gelten.“ Nachdem Naran-Chatun bei diesen Worten ihrem Opferkrug und der Lampe einen Blick zugeworfen, ließ sie sich also vernehmen: „Ich für meine Person gebe doch, nicht wahr, gewöhnlich keine Antwort, geschweige denn ihr vier unpersönlichen Gegenstände. Wenn ihr daher bei einer einmaligen Antwort das richtige nicht treffet, ist das ein Wunder? Was konntet ihr Gutes finden an einer Frau, welche, als sie die an einer Felswand wiederhallende kunstvoll melodische Stimme vernahm, den ihr zu eigen gehörenden Mann tötete, und, indem sie einen kranken dahinschleppte, nach Erschöpfung ihrer Kräfte zusammenbrach? Ein solches schlechtgesinntes Weib dürfte eine Schimnus sein!“

Nachdem sie also sich hatte vernehmen lassen, sprach der König: „Naran-Chatun, als derjenige, welcher dich zweimal zum Sprechen gebracht hat, darf ich dich jetzt heimführen!“« Mit diesen Worten nahm er Naran-Chatun in Empfang, und von Schalû und seinen drei weisen Ministern begleitet machte er, nachdem er die früher erwähnten im Felsengewölbe eingeschlossenen Söhne von 500 Königen befreit hatte, sich auf den Weg in sein Reich. Dort angelangt berief er sein Volk Tai-tsing zu einer Versammlung, begann sofort Glaube und Religion in hohen Ehren zu halten, machte Hohe und Niedere so glücklich, als man es sich nur vorstellen kann, und saß als der vom Schicksal bestimmte hochheilige König Vikramâditja mit seiner Milde und Gnade übenden Gemahlin Ḍâkinî fest auf diesem Thron. –

„König Ardschi-Bordschi,“ schloss die Holzfigur auf den Treppen zum Thron, „wenn du ein solcher Gesetz und Glaube gleichmäßig hochhaltender König sein solltest, dann setze dich auf den Thron; bist du das aber nicht, dann lass es sein!“ Und mit diesen Worten verwehrte sie es ihm.

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Schweigende, meistens übrigens Frauen, durch ordentlich durchgeknallte Geschichten zum Reden zu bringen, ist ja ein international beliebtes Erzählmotiv. Hier in sehr stilisierter Form, aber auch mit besonders feinem Humor. Denn das innere Augenrollen der Chatun kann man sich denken, wenn ihr Eigentum erst pro forma buckelt und dann Quatsch redet.

 
Textquelle: Mongolische Märchen. Die neun Nachtrags-Erzählungen des Siddhi-Kür und die Geschichte des Ardschi-Bordschi Chan. Eine Fortsetzung zu den „Kalmückischen Märchen“. Aus dem Mongolischen übersetzt mit Einleitung und Anmerkungen von Prof. Dr. Bernhard Jülg. Innsbruck: Verlag der Wagner’schen Universiäts-Buchhandlung 1868, S. 103–105.
Bildquelle: Holzschnitzerei der Dvārapālikā aus dem 17. Jahrhundert in Indien & Untreue Ehefrau – hier allerdings eines Schusters und ohne Horrorstrafe (bislang)

43.5 Die Geschichte des Ardschi-Bordschi Chan – heute: III.a Vikramâditja besteigt als Bettler den Thron – Der Minister mit den Opferkerzen – Vikramâditja und die schweigende Jungfrau

Heute lernen wir mit Ardschi-Bordschi Chan, wie Vikramâditja als clever einen verfluchten Thron enthexte, dass sich Opferkerzen nicht gern essen lassen und Göttinnen nicht gerne reden. Oder so ähnlich. Lest am besten selbst…

Die Geschichte des Ardschi-Bordschi Chan
Vikramâditja besteigt als Bettler den Thron – Der Minister mit den Opferkerzen – Vikramâditja und die schweigende Jungfrau

Als der König Ardschi-Bordschi abermals den Wunsch äußerte, sich auf den Thron setzen zu wollen, sprach eine Holzfigur: „Halt König! Du kannst dich nicht darauf setzen. Ich will eine Begebenheit aus dem Leben des hehren heldenmütigen Königs Vikramâditja erzählen.“ Und damit erzählte sie folgende Geschichte. –

Während König Vikramâditja sein ganzes Volk fortwährend beglückte, war ein anderer mächtiger König zum Nirvâṇa eingegangen. Weil kein Sprössling vorhanden war, um seinen Thron zu besteigen, so wählte man einen Jüngling aus dem Volke und setzte ihn als König ein. Weil nun aber, wenn einer einen Tag regiert hatte, derselbe jedesmal in der Nacht starb, so machte der hochheilige König Vikramâditja, als er den fortwährenden Kummer und das Leiden des zahlreichen Volkes erfuhr, von Schalû begleitet in Bettlergestalt sich auf den Weg, um dem Volke Rettung zu bringen. Als er bei seiner Ankunft in ein Haus eintrat, fand er einen Greis mit seiner betagten Frau, welche, für einen schönen Jüngling einen Thron zurecht machend und ihm alle Ehre erweisend, voll Betrübnis dasaßen.

„Worüber seid ihr betrübt?“ fragte er sie. „Unser König,“ antworteten sie, „ist verschieden; und da er ohne Nachkommen ist, und auch die edlen Jünglinge unseres Volkes bereits ausgegangen sind, so trifft unsern einzigen Sohn das Los heute den Thron zu besteigen, und so wird er in der Nacht sterben müssen. Deswegen sind wir betrübt.“ Vikramâditja sprach: „Da für uns zwei Bettler der Tod gleichgültig ist, so wollen wir um deines Sohnes willen 24 Stunden lang König werden und dann sterben.“ Da versetzte der Greis: „Wir können darüber nicht entscheiden; drei mit der Bestimmung der hierbei zu beobachtenden Reihenfolge beauftragte einsichtsvolle Minister haben darüber zu entscheiden. Ich will es zu ihrer Kenntnis bringen.“ Weiterlesen

43.4 Die Geschichte des Ardschi-Bordschi Chan – heute: II.b Vikramâditja der Besieger der Schimnus

Heute wird unser Held endlich zum Helden und zwar wie es sich gehört im Kampf gegen Monster. Und so kann Ardschi-Bordschi denn auch endlich was lernen, was ihn auf den Pfad der Tugend führt, sozusagen. Lest selbst…

43.3 Die Geschichte des Ardschi-Bordschi Chan
II.b Vikramâditja der Besieger der Schimnus

Eines Tages sprach der Prinz Vikramâditja zu seiner Mutter: „Meine Mutter! Lebe hier ruhig weiter; von meinem Schalû begleitet will ich in der Residenz, in welcher mein königlicher Vater herrschte, mich umsehen.“ „Mein Sohn Vikramâditja!“ versetzte die Mutter, „die Entfernung ist gar weit, der bösen Menschen gibt es so viele; wie willst du, mein Teurer, hingelangen?“ Doch der Prinz Vikramâditja antwortete: „Mag auch die Entfernung weit sein, ich werde durch rüstiges Wandern schon hingelangen; wenn der Feinde auch viele sind, ich werde sie zu überwinden trachten.“ Und so machte er sich auf den Weg in die heimatliche Residenz.

Nachdem er endlich angekommen war, erfuhr er, dass der König Galischa auf die Nachricht, dass König Gandharva gestorben sei und zahlreiche Untertanen sich flüchteten, daselbst in der Absicht erschienen war, sich dort niederzulassen und sich in den Besitz der Residenz des Königs Gandharva zu setzen. Allein schon früher waren die Schimnus erschienen und hatten Besitz davon ergriffen. Die Schimnus kehrten zurück, ließen den König Galischa zwar eindringen, nahmen ihn aber dann gefangen und pflegten nun als Tributlieferung von ihm 100 Menschen mit einem Edelmann an der Spitze in Empfang zu nehmen.

Als der Prinz Vikramâditja bei seiner Ankunft in ein Haus am äußersten Ende der Stadt eintrat, fand er daselbst ein altes Mütterchen, welches mit dem Antlitz nieder zur Erde gekehrt dalag und in einem fort sich das Gesicht zerkratzte, die Haare ausraufte und Staub und Asche kaute. Der Prinz Vikramâditja hob sie auf und fragte sie: „Mütterchen! worüber grämst und kümmerst du dich so außerordentlich?“ Die Alte versetzte: „Ihr meine Jünglinge, wisst ihr es denn nicht? Ich hatte nur zwei Söhne. Unser König Galischa war hierhergekommen, um die Residenz des früheren Königs Namens Gandharva in Besitz zu nehmen; allein da er sich von den Schimnus beherrschen lässt, pflegt er diesen an einem Tage 100 Menschen mit einem Edelmann an der Spitze als Tribut zu überliefern. Einen meiner Söhne habe ich bereits früher zum Tribut hingegeben; jetzt haben sie auch den einzigen mir noch übrig gebliebenen Sohn abgeholt, indem sie sagten, dass ich ihn hergeben müsse; deshalb werde ich nun einsam und allein in der Verbannung sterben müssen; das ist meine Klage!“ Auf diese Worte erwiderte der Prinz Vikramâditja: „Mütterchen, bewahre, dass du sterben solltest! Deinen Sohn werde ich dir zurückschicken und ich will an seiner Stelle mich aufspeisen lassen!“ „Ei bewahre, du mein mutiges Söhnlein!“ sagte die Frau; „ich bin ein altes Mütterchen, mit dem es zu Ende ist; wenn du, mein lieber, das versuchen wolltest, so würde deine alte Mutter gleich mir sich unaufhörlich grämen.“ Doch der Prinz Vikramâditja sprach: „Mütterchen, lass das gut sein! Wenn ich den Sohn dir nicht zurückzuschicken im Stande bin, so nimm du an Kindes Statt diesen meinen Jüngern Bruder an, indem du ihn Sohn heißest.“ Weiterlesen