Nahtlos knüpfen wir heute also mit den beiden Erzählungen an, zu denen Vikramâditja gestern angehoben hatte, um die schweigende ‚Göttersonne‘-Chatun zum Reden zu verführen. Aber lest selbst…
Die Geschichte des Ardschi-Bordschi Chan
Zwei Binnenerzählungen
Die hölzerne Frau
In längst vergangenen Zeiten pflegten vier Knaben aus vier Dörfern ihre Herden zu hüten, wobei sie einen bestimmten Platz verabredet hatten. Derjenige von ihnen, der zuerst gekommen war, wartete lange vergebens auf seine Gefährten. Bei seinem Weggehen machte er aus einem Stück Holz die Figur einer Frau, stellte sie auf und ging dann selbst fort. Als der zweite von ihnen schließlich doch kam, trug er ihr gelbe Farbe auf, bevor er ebenfalls wegging. Als der dritte kam, blieb er lächelnd stehen, gab der Frau noch die charakteristischen Zeichen, und entfernte sich gleichfalls. Endlich erschien der vierte, und nachdem er ihr Leben eingehaucht, ward sie eine schöne reizende Frau zum Heiraten. Indem nun alle vier sich um die Frau stritten, sagte der Erste: „Ich habe sie zu allererst aus Holz geformt.“ Der Zweite sagte: „Ich habe die Farbe aufgetragen.“ Der Dritte sprach: „Ich habe die charakteristischen Zeichen hinzugefügt.“ Der Vierte sagte: „Ich habe sie beseelt.“ –
Da sie nun alle vier so miteinander stritten, fuhr Vikramâditja als König fort, welchem von ihnen wird man sie geben müssen? Da versetzten Altar und Rosenkranz: „Naran-Chatun antwortet in der Regel nicht. Von unpersönlichen Gegenständen, wie wir zwei, Altar und Rosenkranz, sind, pflegt sonst auch keine Rede zu erfolgen; allein da der großmächtige König erschienen ist und bei Erzählung einer Geschichte um die Meinung fragt, wie könnte man da die Antwort schuldig bleiben? Weil mir jedoch davon, dass Naran-Chatun Tag und Nacht Gebete hersagt, der Kopf ganz schwindelig geworden ist, so bin ich, da mein Inneres beständig unaufgeklärt bleibt, nicht im Stande, das richtige zu unterscheiden; indes sollte doch wohl, scheint mir, derjenige, welcher zu allererst die Figur gemacht hat, sie zu erhalten berechtigt sein.“ Bei diesen Worten warf Naran-Chatun einen Blick auf ihren Altar und Rosenkranz und sprach also: „Ein persönliches Wesen wie ich fühlte nicht den Mut zu antworten, geschweige denn zwei unpersönliche Gegenstände, wie ihr seid; wenn ihr daher mit eurer so eben gegebenen Antwort das richtige nicht treffet, ist das ein Wunder? Derjenige,“ fuhr sie fort, „der die Figur zuerst gemacht hat, ist der Vater: der die Farbe aufgetragen, ist die Mutter; der die charakteristischen Zeichen hinzugefügt hat, ist der Lama; der ihr das Leben einhauchte, wie sollte der nicht ihr Mann sein?“ Also hatte sie zur Antwort gegeben.
Darauf sprach der König: „Von einem persönlichen Wesen, der Naran-Chatun, ist eine Antwort erfolgt; von zwei unpersönlichen Gegenständen, dem Altar und Rosenkranz, ist eine Antwort erfolgt. Erzählet nun auch ihr eine Geschichte.“ Während Naran-Chatun, ohne irgendeinen Laut von sich zu geben, ruhig dasaß, sprach der Opferkrug: „Weil mein Inneres bestimmt ist, mit Weihwasser angefüllt zu werden, und ich stets in Rauch gehüllt bin, so bin ich nicht im Stande zu erzählen; erzähle daher du, o König, eine Geschichte.“ Naran-Chatun warf bei diesen Worten ihrem Opferkrug einen Blick zu und blieb ruhig sitzen. Da erzählte der König folgende Geschichte:
Bestrafte Untreue
Einstmals zogen zwei Verheiratete, Mann und Frau, mit einander am Fuße einer Felswand vorüber. Von der Felswand herab ließ sich eine wohlklingende, liebliche Stimme vernehmen; selbst die berittenen Rosse blieben stehen und hörten zu, geschweige denn die Menschen. Die Frau sich danach hinwendend dachte bei sich: „Einem Manne, der mit einer so lieblichen Stimme begabt ist, möchte ich angehören!“ Während sie mit diesem Gedanken weiterging, kamen sie zu einem reichlich mit Wasser versehenen Brunnen. Da sprach die Frau zu ihrem Manne: „Hole mir doch von diesem Wasser, ich habe Durst.“ Der Mann machte Halt; indem er aber zum Wasser nicht hinabreichte und das Gleichgewicht zu behalten suchend sich über den Brunnen lehnte, fasste die Frau, die ebenfalls abgestiegen war, ihn an den beiden Füssen, stieß ihn in das Wasser und tötete so ihren Mann.
Als sie nun jene liebliche Stimme aufsuchte und sich danach umschaute, stellte es sich heraus, dass es die stöhnende Stimme eines am Rücken und Hals mit Wunden und Beulen bedeckten Mannes war, die, an der Felswand wiederhallend, sich so lieblich vernehmen ließ. Die Frau war über diese Entdeckung sehr betroffen. „Weil ich,“ sprach sie, „als ich die Stimme eines solchen Leidenden vernahm, meinen edlen Mann getötet habe, so ist nun meine Begegnung mit diesem unglücklichen Manne die Wiedervergeltung dafür.“ Mit diesen Worten nahm sie den kranken Mann auf ihre Schultern, und indem sie sich mühsam mit ihm dahin schleppte, schrumpfte sie allmählich zusammen und magerte ab, bis sie zuletzt starb. –
„Ist das ein gutes oder ein schlechtes Weib?“ fragte Vikramâditja wieder als König. Doch Naran-Chatun gab keinen Laut von sich. Die Lampe aber sprach: „Naran-Chatun hier lässt die Lampe Tag und Nacht ohne Unterlass brennen; weil ich dadurch ganz erschöpft und zusammengeschrumpft bin, so bleibe ich stets ohne die nötige Sammlung, um in richtiger Unterscheidung zu sprechen. Indes, wenn ich berücksichtige, dass die Frau, nachdem sie ihren biederen Mann getötet und dafür einen kranken Mann gefunden hat, diesen doch nicht unter dem Vorwande, er sei schlecht, im Stiche ließ, so verdient sie als gutes Weib zu gelten.“ Nachdem Naran-Chatun bei diesen Worten ihrem Opferkrug und der Lampe einen Blick zugeworfen, ließ sie sich also vernehmen: „Ich für meine Person gebe doch, nicht wahr, gewöhnlich keine Antwort, geschweige denn ihr vier unpersönlichen Gegenstände. Wenn ihr daher bei einer einmaligen Antwort das richtige nicht treffet, ist das ein Wunder? Was konntet ihr Gutes finden an einer Frau, welche, als sie die an einer Felswand wiederhallende kunstvoll melodische Stimme vernahm, den ihr zu eigen gehörenden Mann tötete, und, indem sie einen kranken dahinschleppte, nach Erschöpfung ihrer Kräfte zusammenbrach? Ein solches schlechtgesinntes Weib dürfte eine Schimnus sein!“
Nachdem sie also sich hatte vernehmen lassen, sprach der König: „Naran-Chatun, als derjenige, welcher dich zweimal zum Sprechen gebracht hat, darf ich dich jetzt heimführen!“« Mit diesen Worten nahm er Naran-Chatun in Empfang, und von Schalû und seinen drei weisen Ministern begleitet machte er, nachdem er die früher erwähnten im Felsengewölbe eingeschlossenen Söhne von 500 Königen befreit hatte, sich auf den Weg in sein Reich. Dort angelangt berief er sein Volk Tai-tsing zu einer Versammlung, begann sofort Glaube und Religion in hohen Ehren zu halten, machte Hohe und Niedere so glücklich, als man es sich nur vorstellen kann, und saß als der vom Schicksal bestimmte hochheilige König Vikramâditja mit seiner Milde und Gnade übenden Gemahlin Ḍâkinî fest auf diesem Thron. –
„König Ardschi-Bordschi,“ schloss die Holzfigur auf den Treppen zum Thron, „wenn du ein solcher Gesetz und Glaube gleichmäßig hochhaltender König sein solltest, dann setze dich auf den Thron; bist du das aber nicht, dann lass es sein!“ Und mit diesen Worten verwehrte sie es ihm.
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Schweigende, meistens übrigens Frauen, durch ordentlich durchgeknallte Geschichten zum Reden zu bringen, ist ja ein international beliebtes Erzählmotiv. Hier in sehr stilisierter Form, aber auch mit besonders feinem Humor. Denn das innere Augenrollen der Chatun kann man sich denken, wenn ihr Eigentum erst pro forma buckelt und dann Quatsch redet.
Textquelle: Mongolische Märchen. Die neun Nachtrags-Erzählungen des Siddhi-Kür und die Geschichte des Ardschi-Bordschi Chan. Eine Fortsetzung zu den „Kalmückischen Märchen“. Aus dem Mongolischen übersetzt mit Einleitung und Anmerkungen von Prof. Dr. Bernhard Jülg. Innsbruck: Verlag der Wagner’schen Universiäts-Buchhandlung 1868, S. 103–105.
Bildquelle: Holzschnitzerei der Dvārapālikā aus dem 17. Jahrhundert in Indien & Untreue Ehefrau – hier allerdings eines Schusters und ohne Horrorstrafe (bislang)
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