Zum Ende unserer Märchenweltreise, die zugegeben eher eine Märcheneuropareise war, gibt es heute den zweiten absoluten Klassiker dieses Stoffes. Nach geschlachteten Mutterkühen und Aschenputtelkönigen also zurück zum entspannenden Vertrauten mit Charles Perraults…
Aschenbrödel oder der kleine Glaspantoffel….
Es war einmal ein Edelmann, der sich zum zweiten Male verheiratete, und eine so stolze und hochmütige Frau nahm, als nur auf Erden sein konnte. Sie hatte zwei Töchter von derselben Gemütsart, die ihr in allen Dingen glichen. Der Mann hatte auch eine junge Tochter, aber von beispielloser Sanftmut und Güte; sie hatte das von ihrer Mutter, die die beste Frau von der Welt gewesen war.
Die Hochzeit war kaum vorüber, als die Stiefmutter ihrer Bosheit freien Lauf ließ; sie ärgerte sich über die guten Eigenschaften des lieben Kindes, welche ihre eigenen Töchter noch verhasster darstellten. Sie übertrug ihr die niedrigsten Arbeiten im Haufe; sie musste die Gefäße und die Treppen scheuern, das Zimmer ihrer Mutter und ihrer Stiefschwestern ausfegen; sie schlief auf dem Hausboden in einer Kammer auf einem alten Strohsack, während ihre Schwestern Zimmer mit getäfeltem Fußboden bewohnten, worin ganz moderne Betten und Spiegel waren, in denen man sich vom Kopf bis zu den Füßen betrachten konnte.
Das arme Mädchen litt Alles mit Geduld und wagte nicht, sich bei ihrem Vater zu beklagen, der sie doch nur gescholten haben würde, denn feine Frau beherrschte ihn gänzlich. Wenn sie ihre Arbeit fertig hatte, seßte sie sich in den Winkel des Kamins in die Asche; deshalb nannte man sie gewöhnlich Aschenbrödel. Indessen war Aschenbrödel mit ihren schlechten Kleidern hundert Mal schöner als ihre Schwestern, obgleich diese prächtig gekleidet waren.
Es geschah einmal, daß der Sohn des Königs einen Ball gab und alle vornehmen Personen dazu einlud. Unsere beiden Fräulein wurden auch dazu gebeten, denn sie waren sehr angesehen in dem Lande. Nun waren sie sehr froh darüber und sehr beschäftigt, den Putz und Schmuck zu wählen, der sie am besten kleidete. Das war eine neue Mühe für Aschenbrödel, denn sie mußte die Wäsche ihrer Schwestern plätten und ihre Manschetten falten. Man sprach nur von Kleidern und davon, wie man sich putzen wollte. „Ich“ sagte die Älteste; „werde mein rotsammtnes Kleid mit dem englischen Besatz anziehen.“ „Ich“ sagte die Jüngste; „werde nur meinen gewöhnlichen Rock tragen, aber dafür werde ich meinen goldgestickten Mantel umbinden und meinen Diamantschmuck anstecken.“
Man ließ die berühmteste Putzmacherin holen, um Blondenhauben aufzustecken und kaufte die besten Schönpflästerchen. Sie riefen Aschenbrödel, um sie um Rat zu fragen, denn sie hatte einen guten Geschmack. Aschenbrödel riet ihnen auf’s beste, und bot sich selbst an, sie zu frisiere, was sie auch annahmen. Als sie ihnen das Haar machte, sagten sie zu ihr: „Aschenbrödel, möchtest du auch gern auf den Ball gehen?“ „Ach, liebe Schwestern, ihr macht euch über mich lustig, das kommt mir nicht zu.“ „Du hast recht, man würde sehr lachen,; wenn ein Aschenbrödel auf den Ball käme.“ Eine Andere als Aschenbrödel würde sie schief frisiert haben, aber sie war gut und frisierte sie vollkommen schön. Sie aßen beinahe in zwei Tagen nichts, so waren sie voller Freude. Man zerriß mehr als zwölf Schnürbänder, um sie recht einzuschnüren, damit ihre Taille schlanker würde, und fortwährend standen sie vor dem Spiegel. Endlich kam der glückliche Tag; man fuhr ab und Aschenbrödel folgte ihnen, so lange sie konnte, mit den Augen.
Als sie sie nicht mehr sah, fing sie an zu weinen. Ihre Patin. die sie in Tränen fand, fragte sie, was ihr fehle: „Ich möchte gern…. ich möchte gern….“ Sie weinte so sehr, daß sie ihren Wunsch nicht aussprechen konnte. Ihre Patin, die eine Fee war, sagte zu ihr: „Du möchtest gern auf den Ball gehen; nicht wahr?“ – „Ach, ja!“ sagte Aschenbrödel seufzend. „Nun wohl! wenn du artig bist, sollst du hingehen,“ sagte ihre Patin. Weiterlesen →