25.6 Kafkas Kleine Fabel

Nach Tagen und Tagen in der Aufklärung machen wir in unserer Zeitreise mit der deutschen Fabel heute einen großen Satz ins 20. Jahrhundert. Zwar ist die Fabel nun meistenteils ins Klassenzimmer verbannt, aber hier und da hat sie doch nochmal Aufmerksamkeit erregt.

Das erste Beispiel ist Franz Kafkas (1883-1924) Kleine Fabel, die er 1920 geschrieben hat. Allerdings ohne Titel. Den bekam der Mini-Text von Max Brod, der ihn mit anderen unveröffentlichten Texten 1931 herausgab. Und tatsächlich kann man sich gleich fragen – ist das eine Fabel? Lest selbst…

Kleine Fabel

„Ach,“ sagte die Maus, „die Welt wird enger mit jedem Tag. Zuerst war sie so breit, dass ich Angst hatte, ich lief weiter und war glücklich, dass ich endlich rechts und links in der Ferne Mauern sah, aber diese langen Mauern eilen so schnell aufeinander zu, dass ich schon im letzten Zimmer bin, und dort im Winkel steht die Falle, in die ich laufe.“ – „Du musst nur die Laufrichtung ändern,“ sagte die Katze und fraß sie.

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Die Forschung sieht das Textchen eher als Parabel, zumal es keine ausgesprochene Moral gibt. Nun hat ja nicht jede Fabel eine explizite Moral und implizit ist Kafkas Text natürlich durchaus moralisch. Es ist nur eben keine Moral mit erhobenen, dozierendem Zeigefinger.
Für mich geht es weniger um Fragen von Schicksal und Menschheit, sondern vielmehr darum, wie sehr man als Individuum gefangen sein kann in einem Weg, der einem aufgrund der eigenen Erfahrungen, Macken und Scheuklappen als der einzig mögliche vorkommt. Und selbst wenn einem jemand anders die Lösung sagt, die objektiv simpel wie nur was ist, gibt es für einen selbst eben keinen Ausweg. Bis zum hier bitteren Ende.
Unabhängig von der Einordnung des Texts in eine Gattung regt er so doch auf jeden Fall zum Denken an. Oder was meint ihr?
 

Textquelle: Franz Kafka: Gesammelte Werke. Bd. 8. Frankfurt am Main 1950ff., S. 91-92.
Bildquelle: Foto von Kafka, 1914

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